MUTIG ZUSAMMENHALTEN

MUTIG ZUSAMMENHALTEN

2020: EIN VIELVERSPRECHENDES JAHR
Bis vor kurzem lief alles in der MUT Academy erfolgreich und nach Plan: Unsere Stipendiat:innen aus Jg. 10 kamen jede Woche in das Büro und schrieben Bewerbungen für ihre Ausbildungen, die am 01.08.2020 beginnen sollen. In zwei MUT Camps zum Bewerbungstraining lernten sie, sich erfolgreich zu bewerben. 16 unserer über 60 MUTis haben bereits Zusagen! Viele positive Rückmeldungen und Einladungen zu Bewerbungsgesprächen versprachen noch bessere Ergebnisse. In unseren Prüfungsvorbereitungscamps sollten sich ca. 150 Jugendliche aus 16 Stadtteilschulen auf ihre Abschlussprüfungen vorbereiten. Und dann kam Corona.

VOLLBREMSUNG IN DER HOCHPHASE UNSERES PROGRAMMS

Vor nur zwei Wochen mussten wir das erste Mal in der MUT Academy ein MUT Camp abbrechen. 35 Jugendliche und 10 MUTivator:innen kehrten zurück aus der Jugendherberge in Tönning nach Hamburg von ihrer Prüfungsvorbereitung – völlig erschöpft vom zusätzlichen Druck der Corona-Atmosphäre und wie immer traurig darüber, dass es schon vorbei war.

“Es war die beste Woche meines Lebens. Ich habe neue Freunde gefunden.”

Zwei weitere Camps für 72 Jugendliche aus 7 Stadtteilschulen Hamburgs sagten wir ab, ebenso wie alle anderen bevorstehenden Veranstaltungen (Bewerbungsmarathone und -nachmittage, Azubi Speeddatings usw.). Wir führten Telefonate mit enttäuschten Lehrkräften und Eltern. “Werden die Camps denn nachgeholt?”. Lange hatten wir das Programm akribisch geplant. Viel Liebe, Arbeit, Zeit und Geld war in ihre Vorbereitung geflossen mit dem Ziel, unsere MUTis erfolgreich auf ihre Abschlussprüfungen und Ausbildungen vorzubereiten. Nun befinden wir uns in einer anderen Welt, in der sich die Bedingungen täglich verändern. Planung gibt uns normalerweise Halt und Kontrolle. Strukturen wie Schule, gewöhnliche Tages- und Arbeitsabläufe fallen weg und stellen uns vor neue Herausforderungen. Wir alle spüren den Mangel an Struktur und sozialen Kontakten.

WIR WERDEN MIT UNTERSCHIEDLICHEN CHANCEN GEBOREN

Wir leben in einer Kultur, in der “jeder seines eigenen Glückes Schmied” sein soll. Wir gehen davon aus, dass jedes Individuum selbst die Verantwortung für sein Glück trägt. In unseren Camps kleben wir folgenden Spruch an alle Spiegel, sodass alle Teilnehmer:innen ständig daran erinnert werden:

“Hier siehst du den Menschen, der für dein Leben verantwortlich ist.”

Wir arbeiten in der MUT Academy viel mit Begriffen wie Selbstbild, Selbstwirksamkeit und Selbstverantwortung. Wir können nicht wählen, als wer, wo und in welche Familie und Religion wir geboren werden, welches Geschlecht oder welchen Namen wir haben. Wir alle müssen lernen, aus unseren Bedingungen das Beste zu machen und das wollen wir unseren MUTis beibringen. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht:

“Deine Chancen sind abhängig von deiner sozialen Herkunft.”

Die Corona-Krise zeigt umso deutlicher, wie unterschiedlich diese Bedingungen und damit die Voraussetzungen dafür, was uns im Leben passiert oder was wir im Leben erreichen können; wie unterschiedlich wir alle aus uns selbst schöpfen können und wie sehr wir aufeinander angewiesen sind. In Deutschland ist der Bildungserfolg so stark an die soziale Herkunft und die ökonomischen Möglichkeiten gebunden, wie in keinem anderen OECD Land. Es ist an der Zeit, dass wir allen Menschen die Möglichkeit geben, WIRKLICH ihres eigenen Glückes Schmied zu werden. Und das geht nur, indem wir uns gegenseitig unterstützen und allen die gleiche Unterstützung ermöglichen. Nicht alle von uns sind so privilegiert, auf ein starkes Netzwerk zurückgreifen zu können. Wir sind als Organisation dankbar für unsere Förderer, Kooperationspartner und Freunde, die uns den Rücken stärken. Und dafür, dass wir dieses starke Netzwerk unseren MUTis zur Verfügung stellen können. Gerade in weichenstellenden Phasen wie dem Übergang von der Schule in den Beruf kann das einen entscheidenden Unterschied für das ganze Leben bedeuten.


PROBLEME WERDEN SICHTBARER

Das Corona Virus scheint in allen Menschen und Bereichen der Gesellschaft Schwächen aufzudecken: im Gesundheitssystem, der Politik, der Wirtschaft und der Bildung. Die lange geforderte Digitalisierung im Bildungssystem wird (endlich) in kürzester Zeit aus dem Boden gestampft. Auch wir sind dabei, unser Programm zu digitalisieren, um unsere Jugendlichen weiterhin zu erreichen. Während jedoch sogar wohlhabende und “bildungsnahe” Familien Schwierigkeiten mit den neuen Anforderungen haben, so fehlt es in vielen Familien unserer MUTis an der grundlegenden Infrastruktur: Internet, Computer und ein ruhiger Arbeitsplatz sind keine Selbstverständlichkeit. Von der Arche in Hamburg erfahren wir, dass Jugendliche vor ihrer Tür stehen mit der Bitte, Schulsachen auszudrucken oder kurz ins Internet zu dürfen, weil sie nicht an ihre Schulsachen und Mails von den Lehrkräften kommen. Ebenso sind die Familien selten in der Lage, unsere MUTis bei den Hausaufgaben zu unterstützen. Überforderung der Erziehungsberechtigten durch sprachliche Hürden oder das Aufpassen auf Geschwister sind häufige Schwierigkeiten. Für Jugendliche stellt die Schule nicht nur einen Ort zum Lernen sondern eine wichtige Gemeinschaft dar – auch wir können hier als MUT Academy eine Rolle spielen, indem wir nah an ihnen dran bleiben. 

Nicht alle von uns sind so privilegiert, auf ein starkes Netzwerk zurückgreifen zu können.

MUTIVIERTE JUGENDLICHE – UNSICHERE PRÜFUNGEN AUSBILDUNG & BEWERBUNGEN. UNSER FOKUS BLEIBT: BEZIEHUNGSARBEIT

Wir sind momentan mehr als sonst mit unseren MUTis in Kontakt. Wir rufen ihre Familien an und fragen per Telefon oder whatsapp, wie ihr Alltag aussieht, wie der Unterricht abläuft, wobei sie Hilfe brauchen und legen gemeinsame Ziele mit ihnen fest. Wir erhalten viele Rückmeldungen mit dem Wunsch, in Kontakt zu bleiben. Die Schule ist stark darauf reduziert, Hausaufgaben zu geben. Es fehlen Struktur und Begegnung. Wir haben unter anderem Laptops verliehen. Auch unsere ehrenamtlichen MUTivatoren zeigen über die Distanz Einsatz, in dem sie Stellen recherchieren und weiterleiten.

“Ich lerne gar nichts. Es ist ein Riesenunterschied, ob man dort oder hier von zu Hause lernt. Ich freue mich auf das Wesentliche, dass alles wieder gut wird und ich meine Lehrkräfte und Mitschüler:innen sehen kann.”

Die MUTis sind motiviert. Leider sind die Prüfungstermine und Ausbildungsmärkte ungewiss. Schulen und Arztpraxen haben geschlossen, Probetage und sogar Vorstellungsgespräche werden abgesagt. Wir lassen von unseren Ehrenamtlichen Lehrstellen suchen, bringen in Erfahrung, ob Ausbildungsbetrieben sie Azubis suchen und die Bewerbungsgespräche per Videotelefonat geführt werden können. Werden die Betriebe erstmal keine Azubis einstellen oder Azubis bevorzugt, weil sie „billige Arbeitskräfte“ sind? Profitiert unsere Zielgruppe vielleicht sogar von dieser Krise, weil viele von ihnen in sogenannten „systemrelevanten Berufen“ arbeiten möchten, wie dem Einzelhandel, dem Handwerk und sozialen Berufen wie Erzieher:in oder Medizinische Fachangestellte? Hier können wir helfen, Disziplin und Mut aufrecht zu erhalten. 

Die Corona-Krise stellt uns viele Fragen darüber, wie unser Leben und unsere Gesellschaft aussehen sollen. Wir von der MUT Academy leben und arbeiten mit der Überzeugung, dass wir alle davon profitieren, wenn wir mehr füreinander da sind und vor allen für diejenigen, die es am meisten brauchen – noch lange über Corona hinaus.

Philipp Arlt
MUTivator