Von Sorgen und Einschlafproblemen
„Alle Möwen heißen Emma. Bis auf eine. Die heißt Alexandra. Und die ist die Freundin von Johann, dem Leuchtturmwärter auf den Hummerklippen“ – beginne ich aus der Geschichtensammlung von James Krüss vorzulesen. Mein Publikum sind drei 14-jährige Mädchen, eingekuschelt in Hochbetten, in einer Jugendherberge irgendwo in Schleswig-Holstein. Ich bin selbst noch ganz erstaunt, dass ich das gerade wirklich mache und vor allem: dass die Jugendlichen das total toll finden!
Es ist der dritte Tag des MUT Camps und die Schülerinnen bereiten sich zusammen mit knapp 30 anderen Jugendlichen der 9. Klasse aus Hamburg auf ihre mündlichen Abschlussprüfungen vor. Ich unterstütze dabei im Fach Englisch und wir arbeiten an Präsentationen, einfachen Redewendungen und dem Selbstbewusstsein – bereits mit einigen Erfolgserlebnissen. Im Workshop am Vormittag fällt mir aber auf, dass eine Schülerin viel müder ist als in den letzten Tagen und nicht gut zufrieden wirkt. Ich lade sie zu einem kurzen Spaziergang ein und sie erzählt sofort: es gefällt ihr richtig gut auf dem Camp, aber abends gehen ihr so viele Dinge im Kopf rum, dass sie nicht einschlafen kann. Klar, wer kennt das nicht? Gemeinsam überlegen wir, wie wir das lösen können, bis mir die Idee kommt, ihr und den anderen Mädchen in ihrem Zimmer eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen. Begeistert willigt sie ein – und erinnert mich im Laufe des Tages noch mehrmals dran.
In den letzten zwei Jahren durfte ich als MUTivatorin an drei MUT Camps teilnehmen und Jugendliche im intensiven Vergrößerungsglas des fünftägigen Camps erleben. Für mich fühlt sich jedes Camp so an, als ob wir alle kurz in ein Paralleluniversum getreten sind: nichts außerhalb dieses Mikrokosmos hat so richtig Relevanz, alles ordnet sich neu und ungeahnte Dinge können wachsen – bei den teilnehmenden Jugendlichen genauso sehr wie bei den begleitenden Erwachsenen. Jede:r hat die Chance, sich ein kleines bisschen neu zu erfinden, zu lernen und in einem neuen Licht zu sehen. Es entstehen neue Freundschaften, es wird zu wenig geschlafen und viel gearbeitet, es gibt gemeinsamen Sport und viel Spaß. In jedem der Camps gab es für mich Schlüsselmomente, die mir sofort in den Sinn kommen, wenn ich versuche zu beschreiben, was MUT eigentlich ist.
Die Gute-Nacht-Geschichte ist auf jeden Fall einer davon. Nach nur 20 Minuten Vorlesen höre ich gleichmäßiges Atmen aus allen Betten und am nächsten Morgen kann ich drei fröhliche, ausgeschlafene Jugendliche begrüßen. Doch noch etwas ist anders als am Morgen zuvor: meine Schülerin strahlt mich an, kommt mit Fragen zu mir, hört Lob und Tipps die ich für sie habe und strengt sich noch dreimal mehr an als vorher. Es ist toll, im Camp die Zeit und den Raum zu haben, mich wirklich auf einzelne Schüler:innen einzulassen, eine Beziehung mit ihnen aufzubauen und ein kleines bisschen Alltag zu teilen.
Einige Wochen später darf ich bei ihrer mündlichen Prüfung zugucken und bin furchtbar stolz auf sie: sie setzt die Tipps und Tricks aus dem Camp sehr gut um und hat ganz offensichtlich auch nach dem Camp noch weiter an ihrer Präsentation gearbeitet und viel geübt. Die prüfenden Lehrkräfte sind ebenfalls beeindruckt und geben ihr eine super Note. Sie ist überglücklich und wirkt gleich ein paar Zentimeter größer vor lauter Lob. Als ich mich von ihr verabschiede, frage ich sie, ob sie denn in der 10. Klasse wieder bei MUT dabei sein möchte? – „Ja aber klar! Kommen Sie denn auch wieder mit?“
Nina Siemer, Juli 2020